Springe direkt zu Inhalt

Situiertes Wissen statt Annahme von Neutralität

Sowohl die Frauen- und Geschlechterforschung als auch die postkoloniale Forschung beschäftigen sich seit ihren Anfängen kritisch mit dem herrschenden Verständnis von Wissenschaft und ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen. Ein Aspekt ist hierbei die Rolle von Wissenschaftler*innen im Prozess der Wissensproduktion, also z.B. ihr Verhältnis zu ihrem Forschungsgegenstand oder den Forschungsobjekten.

„Wissen vom Standpunkt des Unmarkierten ist wahrhaft phantastisch, verzerrt, und deshalb irrational.“ (Haraway, 1995, S. 87)

Der Anspruch der Neutralität von Forschung, im Sinne einer Unabhängigkeit der Ergebnisse von den forschenden Personen, wurde umfassend in Frage gestellt. So zeigten Frauenforscher*innen auf, dass eine vorgeblich neutrale und universale Perspektive tatsächlich häufig einen Genderbias enthält. Ein solcher Androzentrismus, der Männlichkeit implizit zur Norm macht, führt zum Beispiel dazu, dass bestimmt Genres wie Briefe oder Tagebücher in der Literaturwissenschaft lange gar nicht als Literatur anerkannt wurden. Erst eine Diskussion von Produktionsbedingungen von Schriftsteller*innen und auch Bewertungsmaßstäben führte zu einer neuen Perspektive auf Ein- und Ausschlüsse in den literaturwissenschaftlichen Kanon. In der postkolonialen Forschung wurde herausgearbeitet, dass als universell präsentiertes Wissen nicht neutral, sondern oftmals eurozentristisch geprägt ist. So wird beispielsweise kritisiert, dass in der politikwissenschaftlichen Forschung über nicht-westliche Länder häufig Modelle und Maßstäbe aus europäischen oder nordamerikanischen Ländern unreflektiert übertragen werden. Besonders deutlich wird das bei Themen und Konzepten wie Demokratie, Fortschritt oder Entwicklung.

Werden Wissenproduktion und Forschungsergebnisse als grundsätzlich situiert verstanden, so werden zwangsläufig auch Machtverhältnisse und epistemische Gewalt fokusiert: Wer spricht? Wer wird gehört? Wessen Fragen, Einwände, Probleme und Bedarfe werden als wissenschaftlich wahr- und ernstgenommen? Welche Methoden werden zur Sammlung und Analyse welcher Daten genutzt?

Für Gender und Diversity als Lehr- und Studieninhalt folgt aus der Erkenntnis situierten Wissens die Notwendigkeit der machtkritischen, intersektionalen Auseinandersetzung mit dem Prozess der Wissensproduktion in Forschung und Lehre. Mehr dazu auch unter Wissenschaftskritik der Fachdisziplin.


Literatur:

Castro Varela, María do Mar, und Nikita Dhawan. 2015. Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung. Bielefeld: Transcript-Verlag.

Haraway, Donna. 1995. Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

Ziai, Aram. 2016. Postkoloniale Politikwissenschaft. Bielefeld: transcript-Verlag.

Ziai, Aram. 2011. Die Peripherie in den Sozialwissenschaften. In Politik und Peripherie. Eine politikwissenschaftliche Einführung. Atac, Ilker u.a. (Hg.). 24-38. Wien: Mandelbaum.



Version April 2017. Soweit nicht anders gekennzeichnet, ist dieses Werk unter einer Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz lizensiert.