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Dekonstruktion statt Reproduktion des Kanons

Führt man die kritische Perspektive auf Prozesse und Ergebnisse der Wissensproduktion weiter, kommt man zwangsläufig zu der schwierigen Frage nach der Kanonbildung. Was als Teil des Kanons wahrgenommen wird, hängt damit zusammen, was als zentrales Wissen einer Disziplin anerkannt ist und was nicht. Was sind die Kriterien und Bewertungsmaßstäbe? Welche Autor*innen und Werke gelten als kanonisch und welche eher als dem Randgebiet eines Fachs zugehörig?

„Der Kanon ist gemacht und hat in mehrfacher Sicht etwas mit Macht zu tun.“ (Winko 2002: 9)

In der Frauenforschung fand von Beginn an eine kritische Auseinandersetzung mit den etablierten Bildungskanons statt:

„Dessen Monumente und Artefakte bilden den zweifachen Ausschluss von Frauen ab: Einerseits kommen Frauen als Produzentinnen kaum vor, andererseits bleiben Zeugnisse weiblicher Lebenshorizonte darin marginal oder durch männliche Interpretation überformt.“ (Bidwell-Steiner 2006: 36)

Kanonkritik kann sich ausgehend vom Aufzeigen von Normierungen und Ausschlüssen als affirmative Erweiterung gestalten oder als Dekonstruktion formieren. Sie kann nicht nur auf Gender, sondern auch auf Diversity bezogen werden: Wer entscheidet, was kanonisch sein soll und was nicht? Welche Folgen hat das für das Forschungsgebiet und die Disziplin? Welches Wissen wird Teil der Fachsozialisation der Studierenden, welches Wissen begegnet ihnen nur zufällig oder durch Eigeninitiative? Welche Wissensformen sind anerkannt, welche werden abgewertet (z.B. oral history oder Diskriminierungserfahrung)?

Ganz umgehen lässt sich die Entscheidung über kanonisches Wissen trotz begründeten Vorbehalten jedenfalls nicht, z.B. bei der Entstehung von Lehrbüchern, Studiengängen oder der Literaturauswahl in Lehrveranstaltungen. Der Anspruch bei der Integration von Gender und Diversity besteht in einer diesbezüglichen Selbstreflexivität bzw. der Thematisierung von Machtverhältnissen bei der Kanonbildung in der Lehre. Mehr auch unter Wissenschaftskritik der Fachdisziplin.


Literatur:

Bidwell-Steiner. 2006. Kanonkritik zwischen Herrschaftsraum und geschütztem Raum. In A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Hg. Marlen Bidwell-Steiner und Karin S. Wozonig, 35-41. Innsbruck / Wien / Bozen: Studienverlag.

Winko, Simone. 2002. Literaturkanon als invisible-hand-Phänomen. In Literarische Kanonbildung, Hg. Ludwig Arnold und Hermann Korte, 9-24. München: Edition Text und Kritik.



Version April 2017. Soweit nicht anders gekennzeichnet, ist dieses Werk unter einer Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz lizensiert.