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Positioniertheit wahrnehmen, ‚Lernen für alle’ ermöglichen

Eine gender- und diversitätsbewusste Lehre kann Gender und Diversity sowohl implizit als auch explizit thematisieren. Unter Lehr- und Studieninhalte und Methoden werden für beide Zugänge Anregungen gegeben.

Grundsätzlich gilt - besonders für eine explizite Thematisierung: Studierende - und auch Lehrende selbst – sind meistens in unterschiedlicher Weise von Ungleichheit und Diskriminierung betroffen: Neben Studierenden, die noch nie rassistische oder sexistische Diskriminierung erlebt haben, sitzen andere, für die dies Alltag ist, und vielleicht auch solche, die sich daran bewusst oder unbewusst aktiv beteiligen. Einige Studierende und Lehrende wissen, welche Barrieren es gibt, weil sie damit andauernd konfrontiert sind, andere nicht. Einige gehen täglich noch mehrere Stunden einer Erwerbstätigkeit nach oder jobben die gesamten Semesterferien hindurch, andere haben früher Feierabend, können in dieser Zeit Sprachkurse besuchen, verreisen, oder sich intensiv auf Prüfungen vorbereiten.

Dabei gilt, dass „nicht alle Marginalisierungen/Privilegierungen für Dritte – und damit auch nicht für Lehrende – wahrnehmbar sind.“ (Goel 2016:40).

Studierende sollten allerdings nicht dazu gebracht werden, diese Positionierungen – vor allem Marginalisierungserfahrungen – gegen ihren Willen öffentlich zu machen.

Aus diesen unterschiedlichen Positionen ergeben sich unterschiedliche Zugänge zum Thema, und oft auch unterschiedliche Bedürfnisse und Fragen. Während die einen sich vielleicht gerne mit anderen austauschen würden, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, wollen andere sich gar nicht mit dem Thema beschäftigen. Wieder andere sind neugierig und befassen sich erstmals mit erlebter Diskriminierung und Ungleichheit. Studierende, die Diskriminierung selbst erleben, möchten auf neugierige Fragen aber möglicherweise nicht antworten, weil sie diese sehr häufig hören. Für die einen bedeutet eine Auseinandersetzung mit Gender und Diversity je nach konkretem Thema, handlungsfähiger zu werden und sich evtl. besser gegen Diskriminierung wehren zu können. Für andere bedeutet es, sich mit eigenen Verstrickungen in Machtverhältnisse und mit einer Verunsicherung liebgewonnener Gewissheiten auseinanderzusetzen.

Gender- und diversitätsbewusste Lehre bedeutet, ein Gespür dafür zu entwickeln, wo die jeweiligen Bedürfnisse, aber auch Grenzen von Studierenden sind.
Dabei ist es wichtig, transparent zu machen, dass eine Änderung von Verhaltensweisen, die diskriminierend sind, häufig erfordert, sich temporär aus der eigenen „Komfortzone“ (Adams et al. 2007) heraus zu bewegen. Eine gute Hilfestellung für den Umgang mit diesem Spannungsverhältnis ist z.B. die Seminarvereinbarung. Sie kann erleichtern, Diskriminierung und Rollenverhalten zu thematisieren, ohne die Stereotype zu wiederholen, die kritisch thematisiert werden sollten. Das Konzept der Fehlerfreundlichkeit adressiert diese Schwierigkeit.

Für Lehrende kann dies bedeuten, bestimmte Studierende zu ermutigen, aus Rollen auszubrechen und mehr Raum einzunehmen, sich etwa in Arbeitsgruppen stärker als bisher zu beteiligen, eigene Ergebnisse zu präsentieren, oder sich nicht unterbrechen zu lassen. Andere Studierende können sie deutlicher ermutigen, die Grenzen ihrer Kommiliton*innen stärker als bisher wahrzunehmen, weniger dominante Rollen einzunehmen, andere ausreden zu lassen, oder bei Gruppenarbeiten auch die notwendigen Hintergrundtätigkeiten zu übernehmen. Was die jeweils „passende“ Strategie ist, ist abhängig vom konkretem Thema und den entsprechenden Positionierungen der Studierenden dazu.

Das Angebot 'Intersektional lehren' des Margherita-von-Brentano-Zentrums kann bei diesen Fragen weiterhelfen, ebenfalls kann es hilfreich sein, sich mit anderen Lehrenden zu vernetzen, und die eigenen vorhandenen Möglichkeiten und Ressourcen dafür zu nutzen, Diskriminierung und ungleichen Machtverhältnissen an der Hochschule etwas entgegen zu setzen.

Ein Rezept und die Methode, die für alle Lehrenden und Studierenden gleichermaßen geeignet ist, gibt es nicht. Einen praktischen Umgang mit dieser Herausforderung zu finden, gehört zum Prozess des Erwerbs von Gender- und Diversitykompetenz – für Lehrende wie für Studierende. Sinnvoll ist in jedem Fall eine sorgfältige Vor- und Nachbereitung von Methoden oder Lehrveranstaltungen, z.B. entlang der Methodenplanung und -auswertung.


Literatur:

Adams, Maurianne, Lee Anne Bell, und Pat Griffin, Hrsg. 2007. Teaching for diversity and social justice. 2. ed. New York [u.a.]: Routledge.

Czollek, Leah Carola, Gudrun Perko, und Heike Weinbach. 2012. Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen. Weinheim; Basel: Beltz Juventa.

Goel, Urmila. 2016. Die (Un)Möglichkeit der Vermeidung von Diskriminierungen. In Diskriminierungskritische Lehre. Denkanstöße aus den Gender Studies, Hrsg. Geschäftsstelle des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universiät zu Berlin.

Rosenstreich, Gabriele. 2006. Von Zugehörigkeiten, Zwischenräumen und Macht. Empowerment und Powersharing in interkulturellen und Diversity-Workshops. In Spurensicherung – Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Hrsg. Gabi Elverich, Annita Kalpaka, und Karin Reindlmeier, 195–231. Frankfurt am Main: Iko-Verlag Berlin.

Rosenstreich, Gabriele. 2007. The Mathematics of Diversity Training: Multiplying Identities, Adding Categories and Intersecting Discrimination. In Re-Präsentationen. Dynamiken der Migrationsgesellschaft, Hrsg. Anne Broden und Paul Mecheril, 131–160. Düsseldorf: IDA-NRW.