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Understanding University - Ein Lehrprojekt zur Entzauberung der Hochschule

"Wir wollen mit 'Understanding University' die Möglichkeit schaffen, kritisch reflektiert über die Universität nachzudenken und über diese intensive Auseinandersetzung mit der Universität die Möglichkeit für Empowerment schaffen." (Angie Martiens)

An der Universität kommt es nicht nur darauf an, was wir sagen, sondern auch, wie wir es tun. Die universitäre Rhetorik umfasst viele subtile Regeln und Codes. Für Studierende zeigt sich das z.B. in folgenden Situationen: Wann ist in einer Vorlesung ein guter Zeitpunkt, um eine Frage zu stellen? Was mache ich, wenn ich Fachbegriffe oder Fremdwörter nicht verstehe? Wie schreibe ich eine gelungene Mail an eine Professorin? Ein bildungssprachlicher Duktus prägt das Sprechen an Universitäten. Je nach Disziplin sind unterschiedliche Ausdrucksweisen und Fachbegriffe nötig, um Inhalte zu kommunizieren. Zudem haben sich spezifische Formen entwickelt, wie etwa wissenschaftliche Debatten geführt werden oder wie Diskussionen in Lehrveranstaltungen ablaufen. Wie leicht oder schwierig die Gewöhnung an die universitäre Rhetorik für Studierende ist, hängt oft nicht von ihren Fähigkeiten und ihrem Fachwissen, sondern anderen Faktoren ab: Ob sie aus einem akademischen Elternhaus kommen, in dem eine universitätsnahe Sprechweise zum Alltag gehört, oder ob sie als Erste in der Familie studieren und ihnen ein solcher Rückhalt fehlt.

Sprechen über ungeschriebene Regeln – Diversität und akademische Rhetorik

Solche Unterschiede und Voraussetzungen werden in universitären Lehrveranstaltungen bisher wenig thematisiert. In diesem Good-Practice-Bespiel stellen wir ein Lehrprojekt vor, das diesen Umstand ändern möchte: „Understanding University – The Rhetoric(s) of German Academia“ ging aus einem Projekt der Romanistikprofessorin Anita Traninger und ihren wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Angie Martiens, Isabelle Fellner und Oliver Gent im Sonderforschungsbereich 980 "Episteme in Bewegung" hervor. 2017 erhielt es den Zentralen Lehrpreis der Freien Universität Berlin. In dem Jahr wurden explizit Veranstaltungen mit Diversity-Bezug ausgezeichnet, die aktuelle Forschung innovativ in die Lehre einbringen.

Das im Rahmen des Projekts entwickelte Lehrmodul besteht aus einer Vorlesung von Prof. Dr. Anita Traninger und einem Seminar, das jeweils von einer*m der drei wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen geleitet wird. Die Geschichte der Institution Hochschule wurde dabei einer kritischen Reflexion unterzogen: Lange Zeit habe die Universität Diversität bewusst vermieden, heißt es im Konzept für „Understanding University“. Akademischer Erfolg schien abhängig vom „Talent“ Einzelner. Dabei sei das Vorhandensein von „Talent“ nur vermeintlich individuell. Stattdessen müsse der Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ungleichheitsfaktoren, wie dem Bildungshintergrund und der sozioökonomischen Schicht, berücksichtigt werden.

Die Vorlesung zeichnet die Entwicklung der deutschen Universität und ihrer Rhetorik, besonders im Bereich der Geisteswissenschaften, historisch nach und stellt zur Diskussion, wie Diversität im Hochschulkontext realisiert werden kann. Die Vorlesung bietet Einsichten in struk­turelle Gegebenheiten des universitären Betriebs und reflektiert Fragen, die oft als individuelle Probleme begriffen werden – warum es z. B. so schwierig, sich in einer Diskussion zuerst zu Wort zu melden; warum Vorträge und Vorlesungen in den Geisteswissenschaften oft im Wortsinn vorgelesen werden; und welche strukturellen Ungleichheiten welche universitären Statusgruppen wie betreffen.

Hinter den universitären Kulissen

Im Seminar beschäftigten sich die Teilnehmer*innen praktisch mit den ungeschriebenen Regeln der Hochschule. Dabei setzten die Seminarleiter*innen eigene Schwerpunkte – mal auf die rhetorischen Feinheiten im akademischen Sprechen und Schreiben, mal auf die Verknüpfung von universitären Verhaltensweisen und Geschlechterrollen. In Gesprächsrunden mit Dozierenden konnten die Teilnehmenden hinter die Kulissen des akademischen Betriebs schauen. Dafür gab es besonders gutes Feedback, erinnert sich Angie Martiens: "Lehrende werden im universitären Alltag als nicht sonderlich nahbar wahrgenommen, weshalb der Austausch mit ihnen vielen Studierenden gefallen hat." Solche Formate, bei denen es um die eigene berufliche Praxis und um eine persönliche Sicht auf die Universität ging, hätten für viele Studierende dazu beigetragen, Hemmungen abzubauen.

Doch nicht nur das akademische Personal hält den universitären Betrieb aufrecht. Oft bleiben die Arbeitsabläufe von Verwaltungsmitarbeiter*innen unsichtbar. Deshalb stand auch eine Gesprächsrunde mit Beschäftigten im Studien- und Prüfungsbüro auf dem Seminarplan. Wie nehmen sie den akademischen Betrieb und seine Art zu kommunizieren wahr? Was sollten Studierende über die Arbeit in der Verwaltung wissen? Welche Begegnungen mit Studierenden sind ihnen besonders in Erinnerung geblieben? Neben viel Raum für persönliche Anekdoten gab es auch hier die Möglichkeit, universitäre Sprechweisen kritisch zu reflektieren: Die "richtige" Sprechweise zählt nämlich nicht nur in akademischen Essays, sondern auch in einer Anfrage an das Prüfungsbüro.

Das Hinweisblatt zur Veranstaltung "Hinter den Kulissen I - Kommunikationsstile in/mit der Verwaltung" können Sie hier herunterladen. 

Fachkulturen und ihre Regeln

Wie universell ist universitäre Rhetorik? Wie unterscheiden sich die Praxen und Regeln in der Philosophie von denen der Physik? Mit der Methode des forschenden Lernens probierten sich die Studierenden auch in der Fachkulturforschung. Für einen Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin hat Angie Martiens eine Teilnehmende Beobachtung in den Seminarplan aufgenommen. Dafür sollten Studierende, ausgestattet mit einem selbsterarbeiteten Fragebogen, zwei Veranstaltung anderer Disziplinen besuchen. Dort beobachteten sie, welche Regeln das Sprechen und welche Strukturen die Interaktion prägen.

Das Hinweisblatt zur Teilnehmenden Beobachtung haben wir hier verlinkt.

Videointerview mit Angie Martiens

Ziel des Seminars war es, wie Angie Martiens sagt, „die Rhetoriken der Universität zu entzaubern" und zu zeigen: Akademische Rhetorik ist keine Frage von Begabung, sondern eine soziale Konvention und so auch erlernbar. Worin dieser Mythos der Universität besteht, erklärt Angie Martiens im Videointerview:

  • Frage 1: Worum geht es bei dem Projekt "Understanding University"? ab 00:05 Min
  • Frage 2: Was ist die Motivation für das Projekt? ab 01:23 Min
  • Frage 3: Sie sagen, Sie wollen die akademische Rhetorik "entzaubern". Worin besteht dieser Zauber? ab 05:17 Min
  • Frage 4: Das Projekt richtet sich an Studierende. Welche Reflexionsangebote zu akademischem Habitus könnte es für Lehrende geben? ab 07:07 Min

Angie Martiens ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellencluster 2020 „Temporal Communities“ sowie seit 2015 Teil des Arbeitsbereichs von Prof. Dr. Anita Traninger an der Freien Universität Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören deutschsprachige Literatur zwischen Moderne und Gegenwart, Gender Studies und Subkulturforschung. Kontakt: a.martiens [at] fu-berlin.de

Bourdieu, Pierre: Homo academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.

Hassauer, Frederike: Homo Academica. Geschlechterkontakte, Institution und die Verteilung des Wissens. Wien: Passagen 1994.

Maier, Andreas: Die Universität. Berlin: Suhrkamp 2018.